Das Einbrocken

Mittwoch, 1. Juli 2009

 

Entnommen aus „Die Sollinger“, von Heinrich Sohnrey

Wurde man in den achtziger Jahren in den Weihnachts- und Neujahrswochen abends in ein Bauernhaus geladen, so lautete die Einladung, sofern man den zu erwartenden Genuß nicht als etwas Selbstverständliches ansah: „Wei willt äauk inbrocken!“ Mit diesem Einbrocken hatte es folgende Bewandtnis: In einen großen irdenen Napf (natürlich aus dem altehrsamen Töpferdorfe Fredelsloh) wurde Honigkuchen „gebrockt“, Zucker und so viel Branntwein getan, daß die Brocken darin hochschwammen. Das war die sogenannte „Honnigkäaukenkaschale“ (Honigkuchenkaltschale), die von den Gastgebern und ihren Gästen wie eine Art Suppe gemeinsam aus-gelöffelt wurde – und zwar nach altem Brauch oft so, daß sich alle eines und desselben Löffels bedienten. Man fand darin durchaus nichts Anstößiges, denn das Essen mit dem gemeinsamen Löffel hatte eine sinnbildliche Bedeutung: es war ein Sinnbild der Freundschaft und Eintracht.

Ein seltsamer, anheimelnder Reiz lag in der Einladung: „Wei willt äauk inbrocken“, nicht nur für die Männer, sondern auch für die Frauen und selbst für die Kinder, denn, weiß Gott, die „Honnigkäaukenkaschale“ mochten sie alle. Sie wurde auf der Weper sogar „malterweise“ gegessen, denn sechs Löffel voll galten als sechs Himten, und das ist ein „Malter“. Manchmal galt es sogar darum, wer die meisten „Malter“ tragen konnte, und daß da hin und wieder auch mal einer etwas wackelte, lässt sich schon denken.

Zu einem richtigen „Inbrocken“ gehörte aber auch ein gehöriger Brocken Wurst oder Schinken. Man hat ja frisch geschlachtet, und links und rechts von dem Honigkuchennapfe stehen Teller, auf denen Würste, vor allem Knack- und Rotwürste, geschichtet sind. Da ist es dann nicht schwer, eine Unterlage zu schaffen, bei der sich das Eingebrockte schon malterweise tragen lässt. Wie bei dem gegenseitigen Hausbesuche, so wurde auch in den Spinnstuben an den Festtagen eingebrockt. Selbst im Dorfkruge kam es, wenn auch nur mehr spaßeshalber, dann und wann zum Einbrocken.

Als ich anfangs der achtziger Jahre an einem Silvesterabend in den Krug eines Weperdorfes kam, sah ich an die zwanzig Mann, jung und älter, um eine solche „Honnigkäaukenkaschale“ – auch Brenneweuinskaschale genannt – vereinigt. Dieser Napf war aber auch der größte, den ich je im Solling gesehen.

Artig und eindringlich wurde ich genötigt, mitzutun und man war dabei so aufmerksam, mir einen aparten Löffel zu bewilligen, den ich jedoch ausschlug. Um der alten Volkssitte zu huldigen und meinen lieben Landsleuten die festlichfrohe Stimmung nicht zu verderben, trat ich ohne Zögern in die Runde ein und tauchte mit herzhafter Selbstüberwindung – es waren ja lauter kerngesunde Leute da – den gemeinsamen Löffel in die braune, brockige Brühe. Doch als meine Blicke dem Löffel folgten, fiel mir unwillkürlich Schillers „Taucher“ ein:


„Da unten aber ist´s fürchterlich,

Und der Mensch versuche die Götter nicht!!!“


Ich versuchte es dennoch, hielt zur nicht geringen Freude der Runde gut durch und hatte mich damit in die Gemeinschaft des Dorfes sozusagen hineingelöffelt.

In dieser Volkssitte wurzelt ein Volksdönchen, das man sich im ganzen Solling erzählt und von mir schon in den neunziger Jahren aufgezeichnet wurde.

Bei Bierkamps am Gasebrinke hatten sie Silvester gefeiert und natürlich tüchtig eingebrockt. Mutter Dörnte vom Nachbarhofe, die rundeste und behäbigste Frau des Dorfes, war auch dabeigewesen und musste sich wohl ganz besonders gütlich getan haben. Natürlich war es bei dieser Feier wie immer recht spät, oder vielmehr recht früh geworden, und man hatte kaum drei Stunden in den Federn gelegen, als es schon zur Frühkirche läutete. Und wer hätte denn bei solchem festlichen Frühglockenklange im warmen Bett liegenbleiben wollen? Denn wie man das neue Jahr anfängt, so wird es auch beschlossen. Stob also alles aus den Federn und in die Kleider, um mit zur Kirche zu kommen, und Mutter Dörnte kam zuletzt richtig auch noch. Da saß sie nun auf ihrer Hausnummer, und ihre Backen glühten, ihre Äuglein glänzten, und eine tiefe Andacht durchströmte ihre Seele. Als aber die Orgel so „duseken“ zu spielen anfing, vergaß sich Mutter Dörnte und schlief ein und schlief fort und schlief auch noch, als die Orgel anhielt und der Pastor auf der Kanzel mit seiner Predigt begann. Sie träumte, sie säße noch an Bierkamps Tische und äße immerfort Brenneweuinskaschale, ob sie ihr auch schon gänzlich über war. Als sie endlich aufhört, fängt „Rawers Krischan“ an, ihr mit Gewalt noch einen Himten aufzunötigen, eben da kommt der Kirchenvorsteher mit dem Klingelbeutel und stößt sie an, und in der Meinung nun, es wäre „Rawers Krischan“ – der Pastor hat seine Predigt gerade in die üblichen drei Teile zerlegt – macht Mutter Dörnte eine energische Bewegung gegen den Klingelbeutel und ruft laut in die Kirche hinein: „Nä,nöu äak nennen Droppen mähr!“

Ich hatte anfangs geglaubt, dieser Brauch sei nur dem Solling eigentümlich, stellte dann aber fest, daß man ihn auch in der Lüneburger Heide kennt. So bemerkt Eduard Kück in seinem Werke „Das alte Bauernleben der Lüneburger Heide“ (Seite 43): „Am ersten Weihnachtstag wird ebendort ein eigenartiges Getränk (kol-schal, aus Branntwein, Zucker und Honigkuchen zusammengerührt) als Willkommen geboten und mit einem Holzlöffel ge-gessen.“ Etwas ausführlicher berichtet darüber Wilhelm Thies in einem Artkel „Im Bann der heiligen zwölf Nächte“ (Niederdeutsche Zeitung, Hannover vom 30. Dez. 1922): In weiten Teilen der Lüneburger Heide wird von der Bevölkerung seit undenklichen Zeiten am Heilig- oder Silvesterabend die Branntwienkolschal (aus geriebenem Honig und Branntwein bestehend) mit Leidenschaft gegessen. Dies Festessen, worauf sich die Leute schon das ganze Jahr freuten und das in keinem Hause fehlen durfte, wurde in zinnernem Geschirr hergerichtet, mit einer zinnernen Kelle auf zinnerne Teller gefüllt und mit solchen Löffeln auch gegessen. Das Essen der „Branntwienkolschal“ verursachte daher immer neben der fröhlichsten und ausgelassensten Stimmung und Unterhaltung durch das Klappern und Klirren des zinnernen Geschirrs viel Lärm. Selbst die Anekdote wird in der Heide ähnlich erzählt.

Um so auffälliger, daß Richard Andree den Brauch in seiner „Braunschweiger Volkskunde“ nicht erwähnt; da er sonst alles Volkskundliche sehr sorgsam registriert hat, nehme ich an, daß er ihm entgangen ist.

Sehr überraschend war für mich ein Brief, den ich auf eine Schilderung des Brauchs im „Land“ erhielt.

„Es wird Ihnen vielleicht nicht unliebsam sein,“ so schrieb mir Rektor Stähler in Elz im Kreise Limburg, „zu erfahren, daß die „Honigkuchenschale“ nicht, wie Sie vermuten, nur Neujahrseigentümlichkeit des Sollings ist; auch der Westerwald kennt sie. Hier heißt der noch vor 20 Jahren bei allen beliebte Trank „Brocksel“. Aus „Daawener Branntwein“ (Dauborn, im Regbez. Wiesbaden, ein durch seine Schnapsbrennerei sehr bekannter Ort), Zucker  und „Leabkuche“ (Honigkuchen-Lebkuchen) wird er hergestellt. Eine Wasserzugabe wird nach der Trinkfestigkeit der Teilnehmer bemessen: sie wird größer, wenn Frauen und Mädchen mitessen. Denn auch hier wird sie – oder vielmehr wurde sie – mit einem Löffel aus einer großen Suppenschüssel gegessen. Die Gesellschaft saß am Silvesterabend oder auch auf Neujahrstag um den Tisch, und einer reichte dem andern – und zwar peinlich genau immer nach rechts – die Schüssel hin; jeder durfte drei Löffel voll essen. Frauen und Mädchen begnügten sich meist mit einem. War die Reihe durch, so wurde ein Lied gesungen, um dann wieder dem Genusse zu huldigen. Außer bei dieser Gelegenheit wurde „Brocksel“ auch nach beendigtem Dreschen „gemacht“.


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